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Sehnsucht als Ressource – Gedanken zum Welttag der Suizidprävention

Hinweis
In diesem Beitrag geht es um Suizid, Gewalt und politische Unterdrückung. Die Inhalte können belastend sein. Bitte achte auf dich. Wenn du selbst in einer Krise bist oder an Suizid denkst, such dir bitte sofort Hilfe:

Telefonseelsorge 0800-1110111 oder 0800-1110222 (kostenlos, rund um die Uhr). Sie ist auch rund um die Uhr über E-Mail und Chat auf ihrer Website unter online.telefonseelsorge.de kontaktieren.

Heute am 10. September wird weltweit der Welttag der Suizidprävention begangen. Er wurde von der International Association for Suicide Prevention (IASP) in Zusammenarbeit mit der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ins Leben gerufen. Weltweit sterben jährlich rund 700.000 Menschen durch Suizid (World Health Organization, 2021). Besonders betroffen sind junge Menschen: Suizid ist die vierthäufigste Todesursache bei 15- bis 29-Jährigen.

Neben persönlichen Krisen sind es oft gesellschaftliche und politische Umstände, die Menschen in die Verzweiflung – und den Tod – treiben. Dieser Tag lädt ein, darüber nachzudenken, wie wichtig es ist, nicht nur individuelle, sondern auch strukturelle Ursachen in den Blick zu nehmen, und zugleich Räume der Hoffnung und Sehnsucht zu eröffnen.

Häufig sind persönliche Krisen eng mit politischen oder gesellschaftlichen Strukturen verknüpft, einige aktuelle Beispiel

Mohammad Moradi (Frankreich/Iran, 2022): Der iranische Student nahm sich in Lyon das Leben, um auf die Unterdrückung der Protestbewegung im Iran aufmerksam zu machen. Sein letzter Wunsch war, dass sein Tod als Weckruf verstanden werde (France 24, 2022).

Sahar Khodayari („Blue Girl“, Iran, 2019): Sie setzte sich vor einem Gericht in Teheran selbst in Brand, nachdem ihr wegen des Versuchs, ein Fußballstadion zu betreten, eine Haftstrafe drohte. Ihr Tod löste internationale Empörung aus und führte zu kurzfristigen Reformen (The Guardian, 2019).

Sudan (2023): Mehr als hundert Frauen nahmen sich während des Bürgerkriegs das Leben, um einer drohenden sexualisierten Gewalt durch Milizen zu entgehen. Dieser kollektive Suizid ist ein erschütterndes Beispiel dafür, wie Gewaltkontexte jede Hoffnung zerstören können (Wafula, 2024; Sky News Arabia, 2023).

Die dargestellten Fälle verdeutlichen ein Paradox. Die Suizide von Mohammad Moradi, Sahar Khodayari und den sudanesischen Frauen waren zugleich Ausdruck extremer Verzweiflung und politischer Handlung. Sie wählten den Tod als Form des Protests, vielleicht auch, weil ihre Sehnsucht nach gesellschaftlicher Veränderung nicht gehört, nicht gesehen wurde.

Diese Beobachtung wirft die Frage auf, welche Rolle Erwachsenenbildung dabei spielen kann (und muss), solchen Sehnsüchten Raum zu gebe, sie ernst zu nehmen, sie wertzuschätzen, dabei zu unterstützen, sie in konstruktive politische Handlungsoptionen zu überführen.

Aus bildungstheoretischer Perspektive lassen sich dabei drei Ansatzpunkte identifizieren.

Handlungsmacht entwickeln. Bildungsprozesse können Räume schaffen, in denen Erfahrungen von Ohnmacht in Selbstwirksamkeit transformiert werden. Dies erfordert konkrete Möglichkeiten zur politischen Partizipation und Mitgestaltung gesellschaftlicher Verhältnisse.

Kollektive Perspektiven eröffnen. Die Erfahrung, mit Kritik an gesellschaftlichen Zuständen nicht isoliert zu sein, kann präventiv wirken. Bildung kann dabei unterstützen, individuelle Krisen als Teil struktureller Phänomene zu verstehen und kollektive Bearbeitungsformen zu entwickeln.

Diskursräume eröffnen und Handlungsoptionen entwickeln. Wo politische Teilhabe eingeschränkt ist, benötigen Menschen kritische Diskursräume und Kenntnisse über verschiedene Formen des Widerstands und gesellschaftlichen Engagements..

Diese Überlegungen zielen nicht darauf ab, Suizid zu politisieren oder zu funktionalisieren, sondern fordern auf, die gesellschaftlichen Dimensionen von Krisen anzuerkennen und präventive und kritische Bildungsarbeit entsprechend auszurichten.


Referenzen

Associated Press. (2024, July 12). Russia’s transportation minister found dead in what officials say was an apparent suicide. AP News. https://apnews.com/article/59babee35c7c1bae79c5becd51f52066

France 24. (2022, December 27). Iranian student kills himself in France to protest repression at home. France 24. https://www.france24.com/en/live-news/20221227-iranian-student-kills-himself-in-france-to-protest-repression-at-home

Sky News Arabia. (2023, May 14). Sudanese women commit suicide to escape rape by militias [Video]. YouTube. https://www.youtube.com/watch?v=T9Voctv1u-o

The Guardian. (2019, September 10). Iranian female football fan who self-immolated outside court dies. The Guardian. https://www.theguardian.com/world/2019/sep/10/iranian-female-football-fan-who-self-immolated-outside-court-dies

Wafula, I. (2024, October 31). Women raped in war-hit Sudan die by suicide, activists say. BBC News. https://www.bbc.com/news/articles/c3ee6lqwx7po

World Health Organization. (2021). Suicide worldwide in 2019: Global health estimates. WHO. https://www.who.int/publications/i/item/9789240026643