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Kulturelle Unterschiede in Bezug auf das Thema Sehnsucht

Die Sehnsucht – also dieses tiefe Verlangen, diese innere Unruhe oder ein Streben nach etwas, das uns fehlt – ist ein Gefühl, das Menschen aller Kulturen kennen. Doch die Art und Weise, wie wir Sehnsucht verstehen, erleben und ausdrücken, variiert stark zwischen verschiedenen Kulturräumen. Dieser Blogpost beleuchtet die unterschiedlichen kulturellen Auffassungen von Sehnsucht, spezifische kulturelle Konzepte, die mit Sehnsucht verbunden sind, sowie die philosophischen und psychologischen Dimensionen dieses Phänomens im interkulturellen Kontext.

Westliche Perspektiven

Im westlichen Denken wird Sehnsucht oft als ambivalentes Gefühl betrachtet – einerseits schmerzhaft, andererseits lustvoll. Der deutsche Philosoph Martin Heidegger beschrieb Sehnsucht als eine fundamentale Stimmung des menschlichen Daseins, die uns mit unserer Existenz verbindet (Heidegger, 1927/2006). In der deutschen Romantik wurde Sehnsucht idealisiert als eine transzendente Kraft, die nach dem Unendlichen strebt und niemals vollständig befriedigt werden kann (Safranski, 2013).

Die angloamerikanische Kultur tendiert dagegen zu einer pragmatischeren Sichtweise, die Sehnsucht oft mit konkreteren Begriffen wie „desire“ oder „longing“ beschreibt und weniger metaphysische Bedeutung beimisst (Levine, 2014).

Östliche Perspektiven

In östlichen Traditionen wie dem Buddhismus wird Sehnsucht häufig anders bewertet. Hier gilt sie als Ursache von Leiden (Dukkha), da Verlangen und Anhaftung unweigerlich zu Enttäuschung führen. Das Ziel liegt daher nicht in der Erfüllung der Sehnsucht, sondern in ihrer Überwindung durch Achtsamkeit und das Loslassen von Begierden (Thich Nhat Hanh, 2017).

In der japanischen Kultur findet sich ein nuancierteres Verständnis von Sehnsucht, das eng mit ästhetischen Konzepten verbunden ist. Die Akzeptanz der Vergänglichkeit und die Wertschätzung der flüchtigen Schönheit werden hier zu einer Form der Sehnsucht kultiviert (Parkes, 2018).

Indigene Perspektiven

In vielen indigenen Kulturen ist Sehnsucht eng mit der Verbindung zum Land und zur Gemeinschaft verknüpft. Bei australischen Aborigines existiert beispielsweise das Konzept des „Homesickness for Country“ – eine tiefe Sehnsucht nach dem traditionellen Land und seinen heiligen Orten, die fundamentaler Bestandteil der kulturellen Identität ist (Moreton-Robinson, 2015).

Bei den Inuit manifestiert sich eine besondere Form der Sehnsucht, die mit ihrer kulturellen Identität und Verbindung zur Natur zusammenhängt. Die junge Inuit-Influencerin Shina Nova (@shinanovaYT) illustriert in ihren Social-Media-Beiträgen regelmäßig diese besondere Form der Sehnsucht nach kultureller Kontinuität. Sie beschreibt in ihren Videos die tiefe Verbundenheit der Inuit mit dem Land, den Jahreszeiten und traditionellen Praktiken wie der Throat-Singing-Tradition (Katajjaq). Diese kulturellen Praktiken dienen als Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart und werden besonders in Zeiten des kulturellen Wandels zu Objekten intensiver Sehnsucht. Ihre Arbeit zeigt, wie das Wiederentdecken kultureller Traditionen eine Form des Heilens darstellen kann – ein Prozess, der sowohl von Sehnsucht nach der Vergangenheit als auch von dem Wunsch nach kultureller Revitalisierung und Dekolonialiserung geprägt ist (Nova, 2023).

Spezifische kulturelle Konzepte der Sehnsucht

Portugiesisch: Saudade

Eines der bekanntesten kulturspezifischen Konzepte der Sehnsucht ist das portugiesische „Saudade“. Es beschreibt ein tiefes emotionales Gefühl des nostalgischen Verlangens nach etwas Abwesendem, das möglicherweise nie zurückkehren wird. Saudade verbindet Trauer und Freude, Schmerz und süße Erinnerung in einem einzigen komplexen Gefühl. Der portugiesische Schriftsteller Manuel de Melo beschrieb Saudade als „ein Vergnügen, das man leidet, ein Leiden, das man genießt“ (Calhoun & Solomon, 1984).

Die kulturelle Bedeutung von Saudade in Portugal ist so groß, dass sie als ein definierendes Element der portugiesischen Identität gilt und einen bedeutenden Einfluss auf Literatur, Musik (besonders Fado) und Kunst hat (Lopes, 2019).

Deutsch: Fernweh und Heimweh

Die deutsche Sprache unterscheidet zwischen „Heimweh“ – der Sehnsucht nach der Heimat – und „Fernweh“ – der Sehnsucht nach der Ferne, nach unbekannten Orten. Diese Differenzierung spiegelt eine kulturelle Besonderheit wider, die tief in der deutschen Geistesgeschichte verankert ist. Bereits Johann Wolfgang von Goethe thematisierte in seinen Werken diese doppelte Natur der Sehnsucht (Hoock-Demarle, 2015).

Der deutsche Begriff „Sehnsucht“ selbst ist kaum adäquat in andere Sprachen zu übersetzen, da er eine besondere Intensität und Tiefe beschreibt, die über bloßes Verlangen hinausgeht und eine metaphysische Dimension enthält (Bollnow, 2009).

Japanisch: Mono no aware und Natsukashii

„Mono no aware“ (物の哀れ) bezeichnet in der japanischen Ästhetik das wehmütige Gefühl angesichts der Vergänglichkeit aller Dinge. Es verbindet Melancholie mit einer tiefen Wertschätzung für die flüchtige Schönheit der Welt. Besonders präsent ist dieses Gefühl in der japanischen Kirschblütenzeit, wenn die kurzlebige Pracht der Blüten gefeiert wird (Keene, 1999).

„Natsukashii“ (懐かしい) beschreibt hingegen ein nostalgisches Gefühl, das beim Erinnern an vergangene, lieb gewonnene Erfahrungen entsteht – eine süße Form der Sehnsucht nach der Vergangenheit (Murakami, 2008).

Walisisch: Hiraeth

„Hiraeth“ ist ein walisisches Wort, das eine tiefe Sehnsucht nach der Heimat beschreibt, aber über einfaches Heimweh hinausgeht. Es bezieht sich auf die Sehnsucht nach einem Ort oder einer Zeit, die möglicherweise nie existiert hat oder nicht mehr existiert – eine Art nostalgisches Verlangen nach einer idealisierten Vergangenheit oder einem imaginären Ort (Davies, 2016).

Südafrikanisch: Ubuntu

In der südafrikanischen Ubuntu-Philosophie wird Sehnsucht weniger individualistisch verstanden, sondern in Bezug auf die Gemeinschaft. Hier geht es um die Sehnsucht nach Verbundenheit und Harmonie innerhalb der sozialen Gruppe – „Ich bin, weil wir sind“ (Tutu & Tutu, 2014).

Fazit

Die kulturellen Unterschiede im Verständnis und Erleben von Sehnsucht zeigen uns, wie tief emotionale Erfahrungen von kulturellen Werten, Sprache und Weltanschauungen geprägt sind. Die reiche Vielfalt an kulturspezifischen Konzepten – von Saudade über Fernweh bis hin zu Mono no aware – erweitert unser Verständnis dieser komplexen menschlichen Emotion und ermöglicht es uns, die Sehnsucht in all ihren Facetten zu erfassen.

In einer zunehmend globalisierten Welt bietet die Auseinandersetzung mit diesen unterschiedlichen kulturellen Perspektiven die Chance, unser emotionales Vokabular zu erweitern und ein tieferes Verständnis für die vielfältigen Weisen zu entwickeln, wie Menschen auf der ganzen Welt Sehnsucht erfahren und ausdrücken Vanderheiden, 2025). Gleichzeitig erinnert uns die universelle Präsenz der Sehnsucht in allen Kulturen an die grundlegende Gemeinsamkeit unserer menschlichen Erfahrung.

Dies sind nur erste Perspektiven auf dieses spannende Thema. Wir arbeiten derzeit an einem Kartenspiel, das kulturell vielfältige Zugänge zur Sehnsucht thematisiert. Bis Ende 2025 wird das Spiel hier zur Verfügung stehen.


Referenzen

Bollnow, O. F. (2009). Das Wesen der Stimmungen. Königshausen & Neumann.

Calhoun, C., & Solomon, R. C. (1984). What is an emotion?: Classic readings in philosophical psychology. Oxford University Press.

Davies, S. (2016). Hiraeth: The presence of absence. Small Press Distribution.

Heidegger, M. (2006). Sein und Zeit [Being and Time]. Max Niemeyer Verlag. (Originalwerk veröffentlicht 1927)

Hoock-Demarle, M.-C. (2015). Heimat-Sehnsucht: Reflexions sur un mythe allemand. Presses Universitaires de France.

Keene, D. (1999). Seeds in the Heart: Japanese Literature from Earliest Times to the Late Sixteenth Century. Columbia University Press.

Levine, S. (2014). A Year to Live: How to Live This Year as If It Were Your Last. Bell Tower.

Lopes, D. (2019). Being & Belonging: The Cultural History of Saudade. Cambridge University Press.

Murakami, H. (2008). What I Talk About When I Talk About Running. Knopf.

Nova, S. (2023). Cultural identity and traditional practices of Inuit people [Video]. YouTube. https://www.youtube.com/@shinanovaYT/shorts

Parkes, G. (2018). Japanese Aesthetics. Stanford Encyclopedia of Philosophy.

Safranski, R. (2013). Romantik: Eine deutsche Affäre. Fischer Verlag.

Thich Nhat Hanh. (2017). The Art of Living: Peace and Freedom in the Here and Now. HarperOne.

Tutu, D., & Tutu, M. (2014). The Book of Forgiving. HarperOne.

Vanderheiden, E. (2025). Sehnsucht (Life Longings) is a Signpost – A German Case Study. In: C.-H. Mayer und E. Vanderheiden (2025). International Handbook of Emotions – Resourceful Cultural Perspectives, Vol. 2. Cham: Springer