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Sehnsucht nach der Natur

Die gegenwärtige ökologische Situation ist durch tiefgreifende Veränderungen gekennzeichnet: Der Klimawandel, das globale Artensterben, der Raubbau an natürlichen Ressourcen und die unumkehrbare Zerstörung ökologischer Lebensräume lassen spürbar werden, dass das Verhältnis zwischen Mensch und Umwelt in eine Krise geraten ist. In dieser Situation formieren sich vielgestaltige Sehnsüchte.

Diese verweisen auf individuelle und  kollektive Erfahrungen von Verlust – nicht nur von Landschaften, Wäldern oder Biodiversität, sondern auch von Zusicherung auf Überlebe, Zukunftsfähigkeit und Vertrauen in die menschliche Gestaltungskraft. Die Natur wird dabei nicht nur als Umwelt verstanden, sondern als Mitwelt – als etwas, in das der Mensch existenziell eingebunden ist und ohne die Überleben nicht vorstellbar ist..

Sehnsucht nach Heilung und Unversehrtheit

Natur berührt nicht nur auf symbolischer Ebene. Neue empirische Studien zeigen, dass Naturerfahrungen auf körperlicher Ebene nachweisbare Effekte haben: Aufenthalte in natürlichen Umgebungen beeinflussen die Schmerzwahrnehmung, senken Stress und verändern die neuronale Verarbeitung von Belastung (Steininger et al., 2025). Natur wirkt damit konkret im Sinne von Heilung und Regulation – besonders dort, wo andere Bewältigungsformen erschöpft sind.

Diese Perspektive ergänzt psychologische und umweltpsychologische Forschung, die schon länger von positiven Effekten natürlicher Umgebungen auf Affektregulation, kognitive Leistungsfähigkeit und soziale Orientierung ausgeht (Berto, 2014; Clayton & Opotow, 2003; Wilson, 1986). Es geht also nicht nur um Rückzug, sondern um Reorganisation – um das Bedürfnis, sich mit etwas zu verbinden, das als wohltuend, heilend und tragend erlebt wird.

Sehnsucht als ethischer Kompass

Sehnsucht nach Natur ist eng mit Fragen von Verantwortung, Mitgefühl und Fürsorge verknüpft. Die Natur wird als etwas erlebt, das geachtet, geschützt und nicht instrumentalisiert werden darf. In spirituellen oder naturbasierten Kontexten zeigt sich die Sehnsucht nach einer Haltung, die nicht auf Kontrolle zielt, sondern auf Beziehung (Vanderheiden, 2025). Die Erfahrung von Natur als Raum für Stille, Wahrnehmung und kontemplative Präsenz verändert die Perspektive auf sich selbst und die Welt – und stärkt oft das Bedürfnis, im Alltag ökologischer und solidarischer zu handeln Ngubeni und Mayer (2025) .

Pädagogische Impulse: Bildung in der ökologischen Krise

In der politischen und ökologischen Bildung eröffnet die Sehnsucht nach Natur einen zentralen Reflexionsraum. Sie ermöglicht es, grundlegende Fragen nach (Über-)Lebensqualität, Verantwortung und Zukunftsfähigkeit nicht abstrakt, sondern erfahrungsnah und kritisch zu verhandeln. Bildungsprozesse, die Natur nicht nur thematisieren, sondern als emotional und symbolisch bedeutsam begreifbar machen, schaffen die Voraussetzung dafür, ökologische, soziale und kulturelle Zusammenhänge neu zu denken.

Es können Räume entstehen, in denen diese Erfahrung(en) Anlässe zum Innehalten, zum Verstehen und auch zum politischen Handeln werden. Narrative, ästhetische und dialogische Zugänge können helfen, komplexe ökologische Herausforderungen nicht nur kognitiv zu erfassen, sondern emotional zu verorten. So kann die Sehnsucht nach einer intakten, lebensfreundlichen Umwelt zu einer Bildungsressource werden: als Ausgangspunkt für Perspektivwechsel, für Solidarität mit dem Lebendigen und für das gemeinsame Ringen um eine gerechtere, nachhaltigere Zukunft.

Foto: Elisabeth Vanderheiden


Referenzen

Berto, R. (2014). The role of nature in coping with psycho-physiological stress: A literature review on restorativeness. Behavioral Sciences, 4(4), 394–409.

Clayton, S., & Opotow, S. (2003). Identity and the natural environment: The psychological significance of nature. MIT Press.

Ngubeni, T. C., & Mayer, C.-H. (2025). Exposure to Nature: Cultivating Love. In C.-H. Mayer & E. Vanderheiden: International Handbook of Love. 2nd Edition. CHam Springer.

Steininger, M. O., White, M. P., Lengersdorff, L., et al. (2025). Nature exposure induces analgesic effects by acting on nociception-related neural processing. Nature Communications, 16, 2037. https://doi.org/10.1038/s41467-025-56870-2

Vanderheiden, E. (2025). Love for Nature: Insights from Biophilia, Topophilia, and Environmental Identity. In C.-H. Mayer & E. Vanderheiden: International Handbook of Love. 2nd Edition. Cham Springer.

Wilson, E. O. (1986). Biophilia. Harvard University Press.