In Mainz, zwischen Landesbank und Landtag, findet sich ein kleines Graffito. Blau gesprüht auf weißen Fensterrahmen steht dort nur „now I’m“ – „Jetzt bin ich“. Der Satz scheint gleichermaßen abgeschlossen und offen. Gerade diese Unvollständigkeit macht ihn stark. Er lädt ein, ihn innerlich zu vollenden. Manche würden vielleicht denken „now I’m waiting“. Andere „now I’m lost“, „now I’m ready“ oder „now I’m hopeful“. Jeder Mensch könnte etwas anderes einsetzen.
(Politische) Erwachsenenbildung lebt davon, solche offenen Sätze wahr- und aufzunehmen. Sie nimmt die Sehnsüchte der Menschen ernst, die oft unausgesprochen im Hintergrund wirken. Sehnsucht zeigt sich in Wünschen nach Teilhabe, nach Sicherheit, nach Gerechtigkeit oder nach Anerkennung. Sie ist mehr als ein Gefühl des Mangels. Sie ist eine Kraft, die Menschen bewegt, Gedanken und Gefühle oder Bedürfnisse in Handlung übersetzen kann.
Das Graffito „now I’m“ scheint zwischen Gegenwart und Zukunft zu schweben. In dieser Spannung wächst Sehnsucht. Sie kann zu einem Ausgangspunkt für Lernprozesse werden, die kritisches Nachdenken mit der Suche nach Veränderung verbinden. Wenn Lernende ihre Wünsche in Worte fassen, wenn sie Sehnsucht mit persönlichen und politischen Analysen verknüpfen, wenn daraus Handeln entsteht, dann zeigt sich das Potenzial politischer Erwachsenenbildung.
Bildungsarbeit eröffnet Räume, in denen Menschen solche unvollendeten Sätze weiterschreiben können. Sie schafft Resonanz, sie ermutigt, sie gibt Gelegenheit zur Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Fragen. Sehnsucht wird damit nicht allein im Privaten verortet, sondern zur Ressource für individuelles und kollektives Lernen.
Das kleine Graffito in Mainz erinnert daran, dass jeder Mensch offene Sätze mit sich trägt. Politische Bildung hat die Aufgabe zuzuhören, diese Stimmen ernst zu nehmen und sie in Perspektiven gesellschaftlicher Veränderung einzubringen.
Foto: Elisabeth Vanderheiden




