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Streetart – Spuren der Sehnsucht

Streetart ist mehr als Farbe auf Beton oder Metall. Sie hält inne, wo alle hasten.
Streetart bewegt sich zwischen Ausdruck und Aneignung, zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit. Sie ist Teil des Alltags – und gleichzeitig ein ästhetischer Eingriff. In vielen Arbeiten zeigt sich eine emotionale Dimension, die selten explizit benannt wird, aber zentral ist: Sehnsucht. Ob nach Verbindung, Anerkennung, Zugehörigkeit oder Erinnerung – in Bildern, die oft nur flüchtig bestehen, verdichten sich individuelle und kollektive Empfindungen.


Visuelle Atmosphären und urbane Sehnsuchtsräume


Wie Streetart städtische Räume atmosphärisch auflädt, beschreiben Wen und Peng (2025) als Wechselspiel zwischen Bild, Licht, Materialität und Ort. Diese Wahrnehmungsdimensionen erzeugen emotionale Qualitäten, die über rein visuelle Eindrücke hinausgehen. Nomeikaite (2023) spricht in diesem Zusammenhang von affektiven Atmosphären, die durch Streetart erzeugt werden und Erinnerungsräume ebenso wie Begehren oder Verlustgefühle berühren können.
Ein Beispiel dafür ist das Wandbild einer weiblichen Figur mit komplex strukturierter Oberfläche und gesenktem Blick (Abb. 1). Die Bildsprache wirkt fragmentiert und zugleich konzentriert. Die floralen und organischen Elemente, die ihr Haar schmücken, betonen nicht Individualität, sondern Verwobenheit mit Natur und Raum. Das Bild verweist auf eine mögliche Sehnsucht nach innerer Ruhe – ohne dies explizit zu machen.



Ein anderes Bild (Abb. 2) zeigt eine Darstellung von Frida Kahlo, flankiert von floralen Motiven. Ihre Darstellung nimmt Bezug auf ikonische Porträts der Künstlerin, zugleich aber ist die Szene stark kontextualisiert durch die Fassadenelemente und den Verfall der Wand. Es entsteht ein Spannungsfeld zwischen Inszenierung und Alltag. Die Präsenz dieser Figur kann als Hinweis auf das Bedürfnis nach Selbstbestimmung, Sichtbarkeit und Widerstand gelesen werden – insbesondere im öffentlichen Raum, in dem feministische oder queere Repräsentationen oft marginalisiert bleiben (vgl. Esposito, 2023).



Körper, Verletzlichkeit, Emotionalität


Ein drittes Wandbild (Abb. 3) zeigt eine nackte weibliche Figur mit geschlossenem Mund und übergroßem anatomischem Herz. Das Bild verzichtet auf Details des Gesichts, konzentriert sich stattdessen auf das freigelegte Herz. Der Körper ist nicht erotisiert, sondern exponiert – der Schmerz oder das emotionale Zentrum wird zum visuellen Fokus. Hier wird keine direkte Botschaft formuliert, sondern eine Haltung visualisiert: Verletzlichkeit als Teil von Sichtbarkeit.



In einem weiteren Werk (Abb. 4) wird die bekannte Figur des Kleinen Prinzen dargestellt. Die Kombination aus Fuchs, Rose und Schlange verweist auf zentrale Motive aus Antoine de Saint-Exupérys Erzählung. Das Bild integriert poetische Symbole in den Stadtraum und verbindet Kindheitserinnerung mit gegenwärtigem Ausdruck. Die dargestellte Figur blickt ernst, beinahe distanziert – vielleicht ein Hinweis auf die Sehnsucht nach Zugehörigkeit, Identität und kindlicher Unmittelbarkeit.



Das fünfte Werk (Abb. 5) zeigt drei männliche Figuren in einem Moment der Nähe und Kommunikation. Die detailreiche Darstellung der Gesichter, Hände und Mimik verweist auf eine positive Emotionalität: Freude, Vertrauen, Intimität. Diese Szene steht in Kontrast zur häufig anonymen, distanzierten Anmutung des städtischen Raums. Sie stellt Beziehung und Austausch in den Vordergrund – möglicherweise eine Sehnsucht nach menschlicher Verbindung, nach Freundschaft, Leichtigkeit, Freude.



Sehnsucht als politisches Motiv


Streetart wirkt nicht durch eindeutige Botschaften, sondern durch ihre Offenheit. Gerade dort, wo keine offiziellen Narrative greifen, können Formen von Sehnsucht sichtbar werden: nach Anerkennung, nach Resonanz, nach sozialen Räumen, die nicht nur funktional, sondern bedeutungsvoll sind (Greenberg, 2024; Björk, 2024). Die betrachteten Werke thematisieren diese Bedürfnisse auf unterschiedliche Weise – mal abstrakt, mal konkret, aber immer eingebettet in den öffentlichen Raum, der zum Resonanzkörper wird.
In dieser Offenheit liegt ihr politisches Potenzial. Sehnsucht, verstanden als Reaktion auf soziale Leere, strukturelle Unsicherheit oder kulturelle Verdrängung, wird zum ästhetischen Ausdruck – und in dieser Form zur öffentlichen Intervention und Einladung zur Interaktion.


Fotos: Elisabeth Vanderheiden


Referenzen

Björk, M. (2024). Urban Memories: Time, Place and Emotion in a street tapestry.

Esposito, V. (2023). Sehnsucht. World Literature Today, 97(5), 8–9.

Greenberg, D. (2024). Street Art In Post-War Bosnia and Croatia. BBDS – Black Book: Drawing and Sketching, 5(2), 8–19.

Nomeikaite, L. (2023). Street art, heritage and affective atmospheres. Cultural Geographies, 30(4), 569–588.Wen, L., & Peng, L. (2025). Encountering graffiti and street art under light and air conditions: Exploring the atmospheric qualities of a place. Emotion, Space and Society, 55, 101085. https://doi.org/10.1016/j.emospa.2024.101085